60 Jahre bayerische Sozialgerichtsbarkeit

Im Evangelischen Bildungszentrum Hesselberg in Gerolfingen fand am 16.09.2014 eine Feierstunde anlässlich des 60-jährigen Bestehens der bayerischen Sozialgerichtsbarkeit statt. Dr. Klaus Hiemeyer sprach als Vertreter des Bezirkstagspräsidenten Richard Bartsch das Grußwort:
Sehr geehrte Festgäste,
herzliche Glückwünsche zum 60-jährigen Jubiläum – oder kann man auch Geburtstag sagen? Gerne überbringe ich Ihnen die Grüße des Bezirkstagspräsidenten Herrn Bartsch und freue mich, dass ich das heute machen darf. Wohne ich doch praktisch gegenüber vom Sozialgericht in Nürnberg und hole dort auch öfter Gutachtensaufträge ab. Und morgen findet dort wieder das wunderschöne Hoffest statt – kommunikaiv und kulinarisch ein Höhepunkt!
In unserer Aufgabe als überörtlicher Träger der Sozialhilfe sind wir als Bezirk leider auch öfter, ja ich muss fast sagen, Kunde beim Sozialgericht. Genaue Zahlen habe ich leider nicht bekommen, aber es müssen aktuell an die 65 Streitfälle sein – und ich glaube, in der überwiegenden Zahl der Fälle obsiegt nicht der Bezirk. Es steht mir nicht an, hierzu Stellung zu beziehen. Erlauben Sie mir aber ein paar Worte zu Angelegenheiten, in denen ich viel praktische Erfahrung habe.
Ich werde öfter vom Sozialgericht Nürnberg – früher auch vom Landessozialgericht in München – dazu aufgefordert, ein Pflegegutachten zu erstellen. Da klagen ältere Menschen, bei denen der MDK schon öfter zur Einstufung hinsichtlich der Pflegesicherung war, beim Sozialgericht und irgendwann wird auch ein Arzt als Gutachter hinzugezogen. Dann gehe ich in die Wohnung des/der betreffenden Pflegebedürftigen und schaue mir die Situation vor Ort an. Das ist wie ein Hausbesuch – so etwas brauchte ich als Facharzt bisher nie zu machen. Ich tue das richtig gern, nehme mir auch viel Zeit dafür – und nebenbei gesagt finde ich, dass diese Aufgabe auch sehr gut honoriert wird. In den allermeisten Fällen bin ich derselben Meinung wie der MDK, der so viel gescholten wird. Unterschiede gibt es jedoch bei dementen Mitmenschen und bei Personen mit Migrationshintergrund.
Für die Begutachtung gibt es gut anwendbare Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung der Pflegebedürftigkeit nach dem neunten Buch des Sozialgesetzbuches, an die sich auch der MDK halten muss und die sogar von diesem herausgegeben werden. Diese Regeln sind ganz klar und man kann mit Menschen mit Demenz hervorragend einordnen. Wenn zum Beispiel eine demente Frau immer wieder aufgefordert werden muss, eine bestimmte Handlung auszuführen, sei es sich zu waschen, zu essen oder sich anzuziehen und dabei sogar das Zimmer verlässt und wieder geholt werden muss, dann können all diese Minuten, welche im Rahmen der sogenannten aktivierenden Pflege erforderlich sind, im Rahmen der Pflegeversicherung gewertet werden und gehen dann in die Berechnung der Pflegestufe ein.
Besser kann es meiner Ansicht nach auch ein neuer Pflegebegriff nicht machen. Viele Menschen schimpfen über die sogenannte Minutenpflege bei der Pflegeversicherung. Aber mit welcher Maßeinheit wollen Sie den Hilfebedarf eines Bedürftigen denn messen, wenn nicht mit einer Zeiteinheit? Pflegeminuten, Fachleistungsstunden, irgendeine „Währung“ brauchen Sie!
Wenn jetzt die sicher sinnvolle soziale und kulturelle Teilhabe der zu pflegenden Menschen dazukommen soll, die Pflegeversicherung aber weiter eine Teilkaskoversicherung bleiben soll und damit wenig zusätzliches Geld ins System kommt, wie soll das dann gewertet werden?
Da kommt möglicherweise viel Arbeit auf die Sozialgerichte zu. Es wäre politisch viel vernünftiger, das vorher im Gesetz sinnvoll zu lösen und in der Gesellschaft zu diskutieren, was uns gute Pflege wert ist.
Ähnliches schwant mir beim Bundesteilhabegesetz. Wenn hier durch eine Wischiwaschi-Gesetzgebung in einer Hopplahopp-Lösung die Säulen der Sozialgesetzgebung nicht neu und sinnvoll justiert und personenzentrierte Fachleistung und Existenzsicherung nicht klar auseinandergehalten werden, dann wird eine Flut von Klagen auf Sie in den Sozialgerichten zukommen. Das haben Sie nicht verdient. Sie könnten Ihre Arbeitskraft sinnvoller einsetzen, wenn Sie nicht schlampige Gesetzgebung ausgleichen müssten.
Ich mache jetzt hier Schluss, es ist ja nur ein Grußwort. Ich freue mich, dass die bayerische Sozialgerichtsbarkeit 60 Jahre Erfahrung vorweisen kann und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Ihnen Ihre Arbeit dort genauso viel Spaß macht wie mir als Bezirksrat, als Arzt und auch als Gutachter – Sie haben das verdient. Ihr besonderes Engagement und die vielen Aktenberge hat Ihre Präsidentin ja schon hervorgehoben. Vergessen Sie darüber nicht, dass hinter den Akten immer auch Menschen stecken.
Ihr Programm ist ja relativ locker, gestern haben Sie den wunderschönen Hesselberg genossen, heute noch die markgräflichen Residenz. Genießen Sie diese Tage. Die Präsidentin hat ja gesagt, dass Sie nach einer steilen Etappe eine Rast brauchen – hier haben Sie diese. Und wenn Sie heute Abend noch das Limeseum besuchen, dann denken Sie daran, dass der Bezirkstag nicht nur ein Sozialparlament ist, sondern auch noch kulturelle Aufgaben hat. Hier haben wir uns auch besonders engagiert.
Ich wünsche Ihnen weiterhin einen guten Verlauf Ihrer Tagung und viele gute Gedanken und Kontakte und der bayrischen Sozialgerichtsbarkeit weiterhin viele gute Entscheidungen im Sinne unserer bedürftigen Bürger und Mitmenschen.

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