Auf den Willen des Menschen kommt es an

Am Dienstag hielt der Sozialwissenschaftler Wolfgang Hinte auf Einladung der grünen Bezirkstagsfraktion im Künstlerhaus in Nürnberg einen Vortrag zum Thema „Sozialraumorientierung und Sozialraumbudgets in der Eingliederungshilfe“.
Bei Hintes Konzept der Sozialraumorientierung spielen die folgenden fünf Prinzipien eine entscheidende Rolle: die Orientierung am Willen des betroffenen Menschen, die Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe, die Konzentration auf individuelle und sozialräumliche Ressourcen, die bereichs- und zielgruppenübergreifende Sichtweise sowie die erfolgreiche Kooperation der Träger.
Das wichtigste Prinzip besteht darin, sich am Willen des betroffenen Menschen zu orientieren. Hinte will die Frage „Was braucht der Mensch?“ verbieten, weil sie den Befragten degradiert, und fordert stattdessen, die selbst formulierten Zielen der Menschen als Messgröße zu benutzen. Die Prüfung der Leistungsberechtigung müsse beginnen mit der Frage „Was sind die Ziele, für die der betroffene Mensch bereit ist, etwas zu tun?“ Ein guter Träger betreut nicht, sondern unterstützt die Betroffenen dabei, ihre Ziele zu erreichen. Diese müssen vorab definiert und später überprüft werden. Mehr Kontrolle ist nicht nötig, was viel Zeit und Geld spart, da die aufwändige Dokumentation der einzelnen Maßnahmen bzw. Dienstleistungen der Einrichtungen wegfällt.
Im Rahmen des zweiten Prinzips plädiert Hinte für „so viel Hilfe wie nötig und so wenig Hilfe wie möglich“ – nicht aus Kostengründen, sondern um die Menschen zu stärken und die Würde der Menschen zu bewahren: „Würde bekommen Menschen nicht durch das, was wir für sie tun, sondern nur durch das, was sie selbst tun.“ Außerdem ist ihm die frühzeitige Unterstützung wichtig, um zu vermeiden, dass eine Person erst massive Schwierigkeiten entwickeln muss, um im Hilfesystem berücksichtigt zu werden.
Im jetzigen Finanzierungssystem werden nur personenbezogene Einzelfallhilfen finanziert, man geht also vom „Fall“ aus. So profitieren Träger von Behinderteneinrichtungen von einer großen „Fallzahl“, d. h. von vielen bedürftigen Menschen. Hinte spricht in diesem Zusammenhang bei den Fachkräften vom professionellen Suchtverhalten, der „Fallsucht“, und findet deutliche Worte: „Das jetzige System finanziert Fälle und verhindert nicht, dass Probleme von Menschen so akut werden, dass sie zu Fällen werden.“ Gefördert wird ausschließlich, wenn möglichst viele Defizite nachweisbar sind. Sinnvoll wäre es laut Hinte jedoch, sich nicht auf die Schwächen, sondern auf die Stärken der Betroffenen zu konzentrieren. So eignen sich manche Autisten beispielsweise hervorragend als Softwaretester. Außerdem erhalten die Träger von Einrichtungen finanzielle Leistungen für fest definierte Dienstleistungen. Optimal wären jedoch passgenaue Hilfen, also individuelle Maßnahmen für den einzelnen Menschen, die nicht immer ins System passen.
Das jetzige System sieht ausschließlich professionelle Einzelfallhilfe als förderungswürdig vor. So ist kaum Geld da für die Finanzierung von fallübergreifenden Leistungen, Angeboten und Strukturen, die die Ressourcen des Sozialraums vielen Menschen zur Verfügung stellen können. Die beschriebenen Prinzipien der Sozialraumorientierung finden heute breite Zustimmung in der Fachwelt, sind aber nicht kompatibel mit den jetzigen Finanzierungsformen. Deswegen ist eine andere Finanzierungsbasis, zum Beispiel ein Sozialraumbudget, notwendig. Dabei wird das Geld der Eingliederungshilfe des Vorjahres auf die Träger verteilt, die darüber frei verfügen und es sowohl für fallspezifische als auch für allgemeine Leistungen im ganzen Sozialraum verwenden können. Das bedeutet, Träger werden nicht mehr nur für neue Fälle belohnt und die Fallsucht wird eingedämmt. Des Weiteren können präventive Leistungen finanziert werden, die einen Menschen rechtzeitig davor bewahren können, später zu einem „teuren Fall“ zu werden. Dies war bisher nicht möglich. Voraussetzung dafür ist, dass die Träger miteinander kooperieren, ihre gesamte Buchführung offenlegen und sich so gegenseitig kontrollieren sowie beraten können.
Es ist einleuchtend, dass eine solche neue Betrachtung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zu entscheidenden Veränderungen führt, sowohl in der Betreuung als auch in der Finanzierung. Die grünen Bezirksrät*innen sind überzeugt, dass sich ergänzend zur Einzelfallhilfe das Einbeziehen des Sozialraums mit eigenem Budget (zum Beispiel als Modellprojekt) in Mittelfranken durchaus lohnen würde. Damit würde der Bezirk einen weiteren und möglicherweise entscheidenden Schritt zur Inklusion gemäß dem Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention weitergehen.

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